Von Dr. Marc Surminski
Es sind beunruhigende Nachrichten, die seit einiger Zeit von verschiedenen deutschen Versicherern an die Öffentlichkeit dringen: In einzelnen Sparten gibt es gewaltige Rückstände bei der Schadenbearbeitung. Das betrifft vor allem Massensparten wie Kfz und die PKV. Etliche Gesellschaften quer durch den Markt sind betroffen. In den Medien ist von Fällen mit 300.000 Postrückständen die Rede, von unendlichen telefonischen Wartezeiten und einer quälend langsamen Schadenregulierung. Kunden und Vermittler sind verärgert, Mitarbeiter überfordert und frustriert.
Derartige Katastrophenmeldungen hat es aus der Branche bisher noch nicht gegeben. Zwar kommt es bei extremem Schadenereignissen wie etwa der Ahrtal-Flut, immer wieder kurzfristig zu einer heftigen Überlastung der Schadenabteilungen. Aber davon kann diesmal nicht die Rede sein. Im Kern ist nämlich nur Folgendes passiert: Die Zahl der Schäden hat einfach wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht.
Fast drei Jahre lebten speziell die Auto- und die Krankenversicherer in einer schönen Welt: Es wurde weniger Auto gefahren, und die Menschen gingen weniger zum Arzt und ins Krankenhaus. Jetzt liegen die Schäden wieder auf Normalniveau – und es stellt sich heraus, dass viele Versicherer darauf nicht richtig vorbereitet sind. Es ist in etlichen Häusern nicht mehr genug Personal da, um die Schäden wie gewohnt abarbeiten zu können.
Das Problem beruht auf einer Fehleinschätzung der Lage. Weil es während der Pandemie weniger Frequenzschäden gab, waren die Schadenabteilungen unterbeschäftigt. Wenn Fachpersonal die Versicherer verließ und etwa in den Ruhestand wechselte, wurde es nicht in ausreichemden Maße ersetzt. Etliche Vorstände waren der Meinung, bis zum Ende der Pandemie mit der digitalen Bearbeitung von Massenschäden so weit zu sein, dass man den Rückgang bei der Zahl der Schadenbearbeiter problemlos ausgleichen und gleichzeitig auch noch die Kosten für die Schadenbearbeitung senken könnte. Diese Einschätzung hat sich als falsch erwiesen.
Die Schadenkrise zeigt, dass die Digitalisierung zentraler Funktionsbereiche bei den deutschen Versicherern eben doch noch nicht so weit vorangeschritten ist wie von manchen erhofft. Beim Umgang mit dem Neugeschäft (online oder klassisch) und bei der Policierung läuft es schon ziemlich gut. Aber im absoluten Kerngeschäft – der Schadenbearbeitung – haben sich die Hoffnungen vieler Vorstände auf die Digitalisierung bislang nicht erfüllt. Das zeigt sich jetzt schmerzlich in den Hiobsbotschaften aus dem Schadenmanagement.
Aus den luftigen Höhen von Digitalisierungshype und KI-Kult ist die deutsche Versicherungswirtschaft unsanft auf den harten Boden der Realität abgestürzt. Sehr wahrscheinlich, dass Automatisierung und der Einsatz von KI in Zukunft die Schadenbearbeitung revolutionieren – aber noch nicht heute. In der ungemütlichen Wirklichkeit des Jahres 2024 geht es weiter nur ganz klassisch mit qualifizierten Sachbearbeitern. Deren Zahl nimmt in Folge des demographischen Wandels aber kontinuierlich ab.
KI und Co. sind bislang kein Ersatz – auch weil die Branche mitten im Umbruch der Kernsysteme steckt, was für viele Unternehmen eine existentielle Herausforderung bedeutet, die alle Kräfte beansprucht. Und bis KI die Hoffnungen auf flächendeckende Fortschritte etwa in der Schadenbearbeitung erfüllt, wird es noch dauern. Bislang fahren die meisten Versicherer nur einzelne KI-Pilotprojekte; von einer fundamentalen Veränderung des Geschäftsmodells durch KI ist die Branche noch weit entfernt. Wenn dann wie in manchen Unternehmen geschehen noch eine ganz banale Grippewelle die Ausfälle in den Belegschafen nach oben treibt, kommt es in den Schadenabteilungen zum Kollaps.
Gern wird in bunten Präsentationen eine vollständig digitale, automatisierte Schadenabwicklung per App beschworen. In den USA und in Asien ist sie zum Teil auch schon Realität. Für deutsche Versicherer klingen solche Visionen angesichts der aktuellen Erfahrungen wie Science-Fiction. Es wäre natürlich schon ein Fortschritt, wenn alle Kunden ihre Schäden nur per App einreichten. Aber wenn sie dann etwa wie kürzlich geschehen in der App ihres Krankenversicherers darüber informiert werden, dass es voraussichtlich fünf Wochen dauert, bis der Schaden reguliert werden kann, ist der Digitalisierungsgewinn eher überschaubar.
Es wäre riskant, die massiven Probleme der letzten Wochen und Monate auf die leichte Schulter zu nehmen. Denn sie machen deutlich, dass etliche Versicherer das Schadengeschehen und den Stand ihrer digitalen Transformation grundlegend falsch eingeschätzt haben. Diese Fehleinschätzungen sind nicht untergeordnete strategische Irrtümer, sondern sie haben Auswirkungen auf das zentrale Leistungsversprechen der Assekuranz: im Schadenfall für die Kunden da zu sein. Sie beschädigen den Kern des Geschäftsmodells der Versicherungswirtschaft. Und sie zeigen, wie wichtig ein rascher Fortschritt bei der Digitalisierung für die Branche ist, die ansonsten angesichts der demographischen Entwicklung und des Fachkräftemangels elementare Probleme bei der Aufrechterhaltung ihres Leistungsversprechens bekommt.