Gastbeitrag: Wege aus dem „Schaden-Stau“

Von Dr. Marc Surminski

2024 war das Jahr der Hiobs-Botschaften aus dem Schadenmanagement. Etliche Versicherer gerieten bei der Bearbeitung von Schäden stark in Rückstand. Das betraf vor allem Massensparten wie Kfz, aber auch die Krankenversicherung. Kunden waren frustriert, dass es häufig viele Wochen dauerte, bis ihre Schäden reguliert wurden. Mitarbeiter und Vermittler kritisierten öffentlich die Führungsetagen, weil sie die Schadenentwicklung falsch eingeschätzt und nicht für genug Personal gesorgt hatten. Das zentrale Leistungsversprechen der Versicherungswirtschaft war beschädigt: im Schadenfall verlässlich und schnell für die Kunden da zu sein.

Wie ist die Situation in der Schadenbearbeitung heute? Konnte der „Schaden-Stau“ aufgelöst werden? Was man dazu aus den Unternehmen hört, ist nur bedingt ermutigend. Die größten Missstände scheinen zwar beseitigt. Aber selbst die HUK-Coburg, die 2024 im Zentrum der Kritik stand, schätzt die Lage nach einem Jahr nur verhalten optimistisch ein: „Wir sind zwar in der Schadenbearbeitung deutlich weitergekommen, aber noch nicht da, wo wir hinwollen“, sagte ihr Vorstandschef Klaus-Jürgen Heitmann kürzlich im Interview. Aus anderen Unternehmen gibt es ähnliche Signale.

Die Branche setzt bisher auf konventionelle Methoden

Beim Abbau des Berges an unbearbeiteten Schadenmeldungen setzte die Branche bislang auf eher konventionelle Methoden: Viele Überstunden in den Schadenabteilungen (teilweise sogar in Wochenendarbeit) halfen, die Rückstände aufzuholen. Und neue Betriebsvereinbarungen für den flexibleren Einsatz von Schadensachbearbeitern sollen für die Zukunft dafür sorgen, bei einer großen Zahl von Schadenfällen angemessen reagieren zu können. Außerdem lagerten manche Versicherer Teile der Schadenbearbeitung an externe Unternehmen aus, um Arbeitsspitzen zu bewältigen. So kooperiert etwa die HUK-Coburg mit einem türkischen Unternehmen, um mit deutsch-türkischen Fachkräften im Call-Center künftig unvorhergesehene Schadenwellen zu bewältigen.

Mehr Man-Power in der Schadenbearbeitung als Antwort auf die Probleme – dieses Rezept ist kurzfristig zweifellos die wirkungsvollste Maßnahme, um die aktuellen Missstände zu beseitigen. Angesichts der demographisch bedingten strukturellen Personalengpässe in den nächsten Jahren stößt diese Lösung aber an Grenzen. Und im Blick auf das Potential der Digitalisierung auch im Schadenbereich kann das kaum die Option für die Zukunft sein. Um einen gezielten Ausbau der Automatisierung bei der Schadenbearbeitung und den Einsatz von KI beim Umgang mit Schäden wird die Branche kaum herumkommen.

Versicherer in der Schadenbearbeitung von zwei Seiten unter Druck

Manche Versicherer sagen zwar, dass viele Kunden vielleicht noch den Schaden online melden, aber dann in dieser Stresssituation doch weiterhin mit einem Menschen Kontakt haben wollen. Das mag für größere Schäden sicherlich noch gelten – aber für Massenschäden in Sparten wie Kfz immer weniger. Hier geraten die Versicherer mit ihrer bisherigen Performance in der Schadenbearbeitung zudem von zwei Seiten unter Druck: Zum einen wird das Schadengeschehen zunehmend volatiler. Mit den Folgen des Klimawandels nehmen Elementarschäden an Häufigkeit und Heftigkeit zu – und Versicherer sehen sich damit verstärkt großen Wellen von Schadenmeldungen gegenüber, die man mit den traditionellen Schadenabteilungen kaum in vernünftiger Zeit abarbeiten kann. Diese Veränderungen sind ohne mehr Automatisierung in den Prozessen nicht zu bewältigen.

Zum anderen haben sich die Ansprüche der Kunden stark verändert. „Die eigentliche Revolution kommt aus der Kundenerwartung“, erklärte die Allianz-Schadenvorständin Lucie Bakker kürzlich auf einer Fachveranstaltung. Die Bedürfnisse der Kunden hätten sich brutal gewandelt: Sie hinterfragten zunehmend, wofür sie ihre Prämien zahlten. Und – gewöhnt an den Standard der großen Internet-Konzern wie Amazon – erwarteten sie heute auch von den Versicherern einen schnellen Service.

Momentan kann das auf diesem Level noch kein Versicherer bieten. Angesichts der Komplexität des Geschäftes mag das auch unrealistisch sein. Aber wer künftig zumindest in die Nähe der Service-Champions aus anderen Sparten kommt, würde sich einen großen Wettbewerbsvorteil sichern.

Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. McKinsey kritisierte in einer aktuellen Untersuchung die Zustände im Schadenmanagement. Deutsche Versicherer und ihre Schadenabteilungen, so das Fazit, stießen zunehmend an ihre Kapazitätsgrenzen, insbesondere verursacht durch Kumulereignisse und Engpässe in der Sommerzeit. Daran seien auch mangelhafte Organisationsstrukturen Schuld. Und die Dunkelverarbeitungsquote liege in Kfz marktweit bei nur 4%.

Nachholbedarf bei der Automatisierung

Über mehr Automatisierung in der Schadenbearbeitung und einen immer höheren Anteil von Dunkelverarbeitung wird zwar seit Jahren in der Branche diskutiert. Aber angesichts der vielen Baustellen bei der digitalen Transformation der Versicherer ist man hier vielerorts noch nicht so richtig weitergekommen. Was in asiatischen Märkten oder in den USA schon möglich ist – eine weitgehend automatisierte Schadenabwicklung von der Schadenmeldung über die Steuerung des Kunden bei der Schadenbehebung bis hin zur Reparatur in kürzester Zeit – ist im deutschen Markt häufig noch Zukunftsmusik, auch weil die alten Systeme das meist gar nicht zulassen.

Wer die Probleme in der Schadenbearbeitung langfristig lösen will, kommt an einer Modernisierung der IT und an Investitionen in Automatisierungstools nicht vorbei. Der Einsatz von KI bietet hier viele Möglichkeiten, die Versicherer zu entlasten und die Kunden zufriedener zu machen.

Trotz aller aktuellen Probleme in der Schadenregulierung haben die deutschen Versicherer heute einen Vorteil auf ihrer Seite. Es sieht so aus, als ob sie in diesem Bereich aktuell keine Disruption von außen zu befürchten haben. Insurtechs haben im deutschen Markt bisher keine große Durchschlagskraft, und potentiell gefährliche externe Angreifer wie etwa Amazon zogen sich nach Testläufen in anderen Versicherungsmärkten wieder zurück. Daher hat die Branche die Chance, sich ohne existentiellen Druck von außen selbst zu disruptieren und bei der Schadenbearbeitung endlich den Standard zu erreichen, den man in einer digitalen Welt von ihr erwarten muss.