Immer weniger, immer älter: Ist das deutsche Vertriebsmodell langfristig am Ende?

Gastautor: Marc Surminski

Im deutschen Versicherungsvertrieb gibt es ein schwerwiegendes Nachwuchsproblem. Die Vermittlerschaft altert – und ist damit ein Spiegelbild der ganzen Gesellschaft. Der demographische Wandel macht auch vor dem Vertrieb nicht halt: immer mehr Alte, immer weniger Junge. Das Durchschnittsalter liegt nach der letzten BVK-Strukturanalyse bei 50,6 Jahren. Bei Maklern sind es sogar 53,0 Jahre. Die Vermittler altern mit ihren Kunden, und es kommen zu wenig frische Kräfte nach. Für viele Versicherer wird es immer schwieriger, die Kopfstärke ihrer Ausschließlichkeit stabil zu halten, damit alle Kunden weiter wie bisher betreut werden können. Makler stehen vor der Herausforderung, Nachfolger zu finden, die ihr Unternehmen übernehmen können, weil es zu wenig Menschen gibt, die hier ihre Zukunft sehen.

Seit Jahren wird vor diesen Verwerfungen gewarnt. Aber wie bei den demographischen Veränderungen der gesamten Gesellschaft ist es schwer, gegen diesen Trend anzuarbeiten: Wenn die Babyboomer innerhalb der nächsten zehn Jahre in Rente gegangen sind, endet eine goldene Ära – auch für den Versicherungsvertrieb. Und weil in den letzten Jahrzehnten schlicht deutlich weniger Menschen geboren wurden, fällt es nun immer schwerer, die Lücken zu schließen.

Ein Job im Versicherungsvertrieb ist nicht mehr attraktiv genug

Zu dieser demographischen Naturgesetzlichkeit, die alle Branchen trifft, kommen in der Versicherungswirtschaft spezielle Probleme, die man auf die Kernaussage verdichten kann: Ein Job im Versicherungsvertrieb ist für viele Menschen schlicht nicht mehr attraktiv genug. Wer heute als Nachwuchstalent in der Wirtschaft von allen Branchen umworben wird, für den steht eine Karriere im Versicherungsvertrieb ziemlich weit unten auf der Liste. Im „War for Talents“, der seit Jahren in der deutschen Wirtschaft tobt, hat die Assekuranz keine guten Karten. Das Image des Versicherungsvertriebes ist traditionell schlecht; bis heute rangiert der „Versicherungsvertreter“ in jedem Berufsranking auf den untersten Plätzen – zusammen mit Politikern, Journalisten und Werbetextern. Dazu kommen die immer höheren regulatorischen Anforderungen an die Vertriebstätigkeit, die in den letzten Jahren etliche Vermittler aus dem Markt gedrängt haben.

In früheren Jahren lockte trotzdem die Aussicht auf gute Verdienstmöglichkeiten und teure Dienstwagen ausreichend Nachwuchs in den Versicherungsvertrieb. Heute fragen immer mehr jüngere Menschen nach dem Sinn ihrer Tätigkeit – und sie sind immer weniger bereit, sich in die Hierarchien großer Vertriebsapparate einzufügen und sich gleichzeitig als selbständige Unternehmer dem täglichen Verkaufsnahkampf zu stellen.

Das Ende der bisherigen Vertriebsstrategie

Die Konsequenzen dieses perfekten Sturms aus Überalterung, fehlender Attraktivität und verschärfter Regulierung sind schon heute zu spüren: Die Zahl der Vermittler ist in den letzten zehn Jahren um ein Viertel zurückgegangen. Das sind rd. 65.000 Köpfe weniger. Die gute Nachricht: Der Rückgang hat dem Umsatz der Branche bislang kaum geschadet. Weniger Vermittler machen heute mehr Umsatz als die großen Vertriebsheere der Vergangenheit.

Aber wenn sich die Entwicklung weiter beschleunigt, droht sie für die Branche in den nächsten Jahren tatsächlich gefährlich zu werden. Bestandskunden können nicht mehr gehalten werden, und in letzter Konsequenz gerät mit den schrumpfenden Vertrieben die alte Strategie an ihr Ende, mit möglichst viel Vertriebspower und viel Geld den Vertrieb der eigenen Produkte sicherzustellen, egal wie gut sie im Marktvergleich auch sein mögen.

Digital und direkt auf dem Vormarsch

Parallel dazu gerät das bisherige Vertriebsmodell auch zunehmend von einer anderen Seite unter Druck: Der Direktvertrieb, in Deutschland viele Jahrzehnte nicht über eine Nische hinausgekommen, gewinnt über die Online-Kanäle immer stärker an Bedeutung. Für Massenparten wie Kfz sind Plattformen wie Check24 mittlerweile zu wichtigen Neugeschäftslieferanten geworden. Mit der Abwanderung dieses Geschäfts in den digitalen Direktvertrieb schrumpfen auch die Kompositbestände vieler Agenturen und kleiner Maklerunternehmen, auf denen bisher häufig deren Geschäftserfolg beruhte.

Grundsätzlich gilt allerdings: In der deutschen Versicherungswirtschaft entwickeln sich die Dinge immer langsamer als von manch forschen Experten vorhergesagt, und auch die Veränderungen im Vertrieb sind ein gradueller Prozess, der sich über Jahre hinzieht. Aber die Branche muss sich schon die Frage stellen, ob sie mit ihrem bisherigen Vertriebsmodell angesichts der geschildertem Herausforderungen auf Dauer zukunftsfest aufgestellt ist.

Den traditionellen Vertrieb nicht vorschnell abschreiben

Dabei sollte man sich davor hüten, den traditionellen Vertrieb vorschnell abzuschreiben. Die Zahl der Vermittler, die heute trotz aller Rückgänge im Verhältnis zur Bevölkerungszahl immer noch hoch ist, wird sich in den nächsten Jahren zwar weiter stark reduzieren. Selbst Vermittlerverbände rechnen mit einer Konsolidierung auf etwa die Hälfte. Und ein immer größerer Teil des Massengeschäftes wird künftig auf anderem Wege organisiert werden: Direkt über Plattformen oder über starke Direktmarken wie HUK24, über Ökosysteme, bei denen Versicherungsschutz nur ein Teilaspekt ist, oder auch über Global Player wie Amazon, die bereits Versicherung in Form eines Abo-Modells etwa für Prime-Kunden testen. Ein wichtiger Grund für diese Entwicklung: Immer mehr Kunden wollen auch ihre Versicherungsdinge digital erledigen und wünschen keine Vertreterbesuche wie in früheren Zeiten.

Aber im Bereich der komplexen, erklärungsbedürftigen Produkte wird der persönliche Vertrieb als Helfer, den man in einem unübersichtlichen Markt vertraut und der Probleme löst, weiter eine wichtige Rolle spielen, ob nun über digitale Kommunikation oder traditionell im Kontakt vor Ort. (Wahrscheinlich in einer Mischung aus Beidem.) Das Schrumpfen der Vermittlerzahlen muss dabei kein Schreckensszenario sein, wenn die Branche es schafft, für die Beratung dieser komplexen Produkte auch die richtigen Vermittler zu gewinnen. Das werden dann keine schlecht und recht geschulten Verkaufssoldaten sein, sondern hochqualifizierte Spezialisten, die auf Augenhöhe mit ihren Kunden agieren können – so wie es heute schon die echten Qualitätsmakler etwa im Gewerbegeschäft tun.

Ein zweigeteilter Markt – und Chancen für den Vertrieb

Der Markt wird sich künftig verstärkt zweiteilen: In das Massengeschäft auf der einen Seite, das zunehmend über direkte Kanäle und etwa beim Verkauf von Fondspolicen auch durchaus über Robo Advice abgebildet werden kann. Und das gehobene Geschäft für echte Experten, die dann auch für ihre Beratung entsprechend bezahlt werden – ob nun wie bisher über Provisionen oder über andere Vergütungsformen sei einmal dahingestellt.

Insofern läuten die starke Überalterung und der Schrumpfungsprozess im heutigen Vertrieb nicht das Ende des Versicherungsvermittlers ein. Er muss sich aber künftig als Spezialist für höherwertiges Geschäft positionieren – und dabei wird ein erheblicher Teil der bisherigen Kunden und Verträge verloren gehen. Das sich somit wandelnde Berufsbild zu einem echten Berater in komplexen Vorsorgeangelegenheiten kann dabei helfen, in Zukunft auch gute Nachwuchskräfte für den Versicherungsvertrieb zu gewinnen. Das Aussterben des klassischen Vertriebs, wie es sich momentan abzeichnet, ist daher kein Naturgesetz. Die Branche kann selbst dafür sorgen, dass der Vermittler auch künftig in einer digitalisierten Welt immer noch eine wichtige Rolle spielt.